aus: Claudia Barth: Über alles in der Welt – Esoterik und Leitkultur. Eine Einführung in die Kritik irrationaler Welterklärungen. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2003.

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3. “Systemische Familientherapie” nach Bert Hellinger

 

“Es gibt eine Tiefe, in der alles zusammenfließt. Sie liegt außerhalb der Zeit. Ich sehe das Leben wie eine Pyramide. Oben auf der ganz kleinen Spitze läuft das ab, was wir Fortschritt nennen. In der Tiefe sind Zukunft und Vergangenheit identisch. Dort gibt es nur Raum, ohne Zeit. Manchmal gibt es Situationen, in denen man mit der Tiefe in Verbindung kommt. Dann erkennt man z.B. Ordnungen, verborgene Ordnungen, und kann in der Seele an Größeres rühren.”

Bert Hellinger[1]

 

Ein weiteres Beispiel, wie stark esoterisch-irrationales Gedankengut selbst in wissenschaftlichen Kreisen Annahme findet, ist Bert Hellinger. Der 1925 geborene, in Theologie, Pädagogik und Philosophie ausgebildete, erzkonservative ehemalige Missionar gilt seit den 1990er Jahren als Koryphäe der “systemischen Familientherapie”. Seine Bücher finden reißenden Absatz,[2] an Hochschulen werden seine “Theorien” gelehrt. Hellingers Konzeption bildet eine Mixtur aus sozialtherapeutischen Methoden des Familienstellens und esoterisch-schamanischer Geheimlehre. Während seiner in Seminaren und Großveranstaltungen dargebotenen Kurzzeittherapien verkündet er seiner ergebenen Anhängerschaft seine geheim geschauten Weisheiten in priesterhaftem Ton mit unablässigem Lächeln.

Hellinger geht von der Existenz einer Ordnung aus, die in jeder Familie gleichermaßen gültig sei. Jedes Problem ist nach Hellinger daraus zu erklären, dass ein Familienmitglied (“Sippen”mitglied) gegen die Rangordnung der “Sippe”[3] verstößt. Das ziehe Probleme nach sich, möglicherweise Krankheit und Tod. Die Zugehörigkeit zur Sippe, Blutsverwandtschaft und eine patriarchal strukturierte Familie sind die Grundprämissen des Hellingerschen Ordnungssystems.

Im Familiensystem herrsche eine strenge Rangordnung, die vom traditionellen Familienbild ausgeht. Der jeweils Erstgeborene habe “Vorrang”, die Frau folge dem Mann. Die “Rangordnung” des Familiensystems ergebe sich aus einem “Sippen-Gewissen”. Dieses “Gewissen” sei eine “göttliche Instanz”, die Hellinger wiederum mit einer “Seele” gleichsetzt. Er definiert Begrifflichkeiten zweideutig, gebraucht sie synonym und widersprüchlich, so dass der Zuhörer seiner Vorträge binnen kürzester Zeit den logischen Faden verliert.

Die Sippe sei eine “Schicksalsgemeinschaft”.[4] Ihre “Seele” umfasse Kinder, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und “alle, die in dieser Gruppe für einen anderen Platz gemacht haben”.[5] Das Gewissen, das in dieser Gruppe herrsche, die göttliche Instanz, habe die Funktion, den einzelnen an die Familie zu “binden”. Dieses “Sippen-Gewissen” urteile nicht nach herkömmlichen moralischen Kategorien von Gut und Böse, sondern lediglich in der Kategorie der Zugehörigkeit. Hellinger nimmt mit der Umdeutung des Begriffs “Gewissen” einen Wertwandel vor. Er setzt die Sippenzugehörigkeit als obersten Richtwert der menschlichen Existenz. Für das menschliche Handeln seien gesellschaftliche Wertvorstellungen von Gut und Böse hinfällig. Bestimmende Triebkraft des Menschen sei das Bestreben, die Loyalität zu seiner Sippe aufrecht zu erhalten. Hierin greift Hellinger auf ein totalitäres Menschenbild zurück, das die Chance individueller ethischer Handlungsmaximen negiert.

Hellinger bleibt nicht bei dieser mystischen “Seele” der “Sippe” stehen, sondern bindet diese weiter in eine höhere Ordnungsmacht ein. “Es gibt Dimensionen der Seele, die über uns hinaus gehen. Wir haben keine Seele, sondern wir sind in einer Seele.”[6] Diese kosmisch-göttliche “Ordnung” wirke hinein in jede Sippe. Ziel sei es, in “Einklang” mit dieser Ordnung zu leben – und dieses “im Einklang sein ist nichts beliebiges”.[7] “Ich halte die Idee von Freiheit, die der einzelne bei seinem Tun zu haben glaubt, für völlig illusionär.”[8] Hellinger glaubt, die natürlichen Ordnungsgesetze intuitiv erkannt zu haben. Den Menschen, die bei ihm Hilfe suchen, rät er, ihre Familien nach diesen ewigen festgeschriebenen Gesetzen auszurichten.

Nur wenigen Mensch sei es möglich, die zugrundeliegenden Antriebskräfte, die kosmische Ordnung zu erkennen. Sie wirke “unbewusst”. Von vornherein spricht Hellinger den Hilfesuchenden jegliche Urteilsfähigkeit ab. Die Lösung des Problems liege für die Hilfesuchenden unerblickbar in einer kosmischen Ordnung, die nur durch ihn – Hellinger – erkannt werden könne. Er habe Einblick in diese göttliche Weltordnung[9] und erhalte daher intuitive Eingebungen, wie die therapeutische Lösung eines konkreten Falles auszusehen habe. Kritisches Nachfragen verbietet sich für Teilnehmer seiner Aufstellungen. Wer es doch wagt, wird mit Bloßstellen vor der Gruppe bestraft und beschuldigt, er sei nicht bereit, geheilt, d. h. aus seinen Verstrickungen gelöst, zu werden. Sein Arbeitskonzept kann nicht logisch und rational erschlossen werden. “Die Seele ist in Verbindung mit mehr. So kommt mir manchmal plötzlich, wo die Lösung liegt, und ich sehe Zusammenhänge, die man nicht ableiten kann. Z.B. habe ich gesehen: Wenn jemand einen Bart trägt, hat er eine Mutter, die seinen Vater verachtet und sich für besser hält.”[10] Solch profane Weisheiten des Weltengeistes verblüffen den Zuhörer, aber die Anweisungen des Weltengeistes müssen wohl einfacher Natur sein, denn Hellinger denkt nicht bei der Arbeit: “Wenn ich mit jemandem arbeite, da bin ich nicht im Ich, da denke ich nicht. Ich gehe in meine Seele und habe dann ein ungefähres Gespür”.[11]

Geschichtsbild

 

“Denn das Individuelle wirkt dann nützlich, wenn es der rein persönlichen Willkür entrückt ist; wenn es sich dem großen Bau eines Volks- und Weltlebens einfügt; wenn es dient. Der Deutsche soll dem Deutschtum dienen.”

Julius Langbehn

 

Hellingers Lehre macht den einzelnen Mensch zum gefügigen, unmündigen Objekt geheimnisvoll wirkender Kräfte. Das politische Weltgeschehen wird ebenfalls zum nebulösen Wirken des Schicksals: “Ich denke, dass in der Welt Kräfte am Werk sind, die lassen sich nicht steuern. Deswegen tun mir die Weltverbesserer leid. Die großen geschichtlichen Bewegungen, der Nationalsozialismus, der Humanismus, die Wende, all das sehe ich als Teil eines gesteuerten Prozesses, bei dem die Opfer sowohl wie die Täter in Dienst genommen sind für etwas, das wir nicht begreifen.” “Denn ich weiß, dass diese Bewegungen sehr viel größer sind als ich und dass ich da nicht eingreifen kann.”[12] In Hellingers Systemtheorie wird alles zum Wirken einer kosmischen “Dynamik” erklärt, die Täter und Opfer auf eine Stufe stellt. Die Täter, vom SS-Schergen bis zum baseballschläger-schwingenden Neonazi werden im Namen der Systemdynamik entschuldigt und zu Opfern stilisiert. “Auf der Ebene von: ‘Da muss man doch was machen, das darf doch nicht mehr passieren’ herrscht die Vorstellung, als hätten die Täter selbstbestimmt gehandelt. Also: Dieser Betrunkene hat das gemacht, oder Eichmann hat die Judenvernichtung organisiert. Ich gehe da auf eine andere Ebene. Ich sehe sie alle auf einer Ebene von Schicksal, das alle handeln (...) lässt. Jeder ist ausgeliefert.” Ein Volk von Opfern, unzurechnungsfähigen Betrunkenen sei das deutsche damals also gewesen. “Unlauter” sei es, wenn Menschen, die nicht unmittelbar selbst von den Nationalsozialisten drangsaliert wurden, heute für die Opfer Partei ergriffen.[13] Das Aufarbeiten der Vergangenheit” gelänge nur, “wenn man sich neben die Opfer stellt und mit ihnen weint, ohne die Täter anzugreifen”.[14] Wozu auch, denn alles Schlechte schafft Gutes und umgekehrt: “So schlimm das alles war, für diejenigen, die es überlebt haben, hat es eine wohltuende Wirkung.”[15] Leider haben “es”, die Folter und Qualen, nicht viele überlebt, und die Anzahl der Überlebenden sank durch Spätfolgen der Tyrannei und durch natürliches Altern bis Mitte der 1990er Jahre beträchtlich, so dass sich derartige Verdrehungen der geschichtlichen Tatsachen und menschenverachtende Ergüsse unwidersprochen öffentlich breit machen können.

In seinem Grundlagenbuch Ordnungen der Liebe gibt Hellinger zahlreiche Praxisbeispiele seiner Vorgehensweise. So dokumentiert er darin ein therapeutisches Gespräch mit einem Ratsuchenden, den die Tätigkeit seines Vater während des Faschismus belastet. Dieser Vater hatte als Aufseher eines Konzentrationslager gearbeitet. In dem Gespräch geraten die ethischen, humanen Grundüberzeugungen des Ratsuchenden in Gegensatz zu Hellingers “Ordnung”, nach der das Gewissen in Treue der unauflösbaren Bindung an Sippe und Blutsvorfahren gehorchen soll. Die Ausrichtung des Gewissens an individuell gesetzten ethischen Kriterien oder gesellschaftlichen Moralvorstellungen sei nur eine scheinbare, die die wahre tiefer liegende Sippenbindung verschleiere. Die von Vernunft und Humanismus gekennzeichnete Herangehensweise des Ratsuchenden versucht Hellinger denn auch brachial zu zerstören. Mit der Macht des Therapeuten erklärt er, dass es den Sohn nichts angehe, was der Vater getan habe, er hätte ihn per se in allen seinen Taten – explizit auch in den verbrecherischen – zu “achten”. Um seine Sichtweise zu verdeutlichen, erzählt Hellinger von einer Frau, die sich in ihrer Heimat Jugoslawien für die Errichtung eines Denkmals einsetzt: “Da hat eine jugoslawische Dichterin unbedingt ein Denkmal errichten wollen für einen deutschen Soldaten. Der war abkommandiert zu einem Erschießungskommando, um Partisanen zu erschießen. Doch er hat sich geweigert, sein Gewehr hochzuheben, ist dann rübergegangen zu den Partisanen und hat sich mit ihnen erschießen lassen.” Hellinger kommentiert diesen Akt der Verweigerung eines deutschen Soldaten gegen das Wüten und Morden deutscher Truppen auf dem Balkan folgendermaßen: “Nun, was ist denn das für einer? Ist er gut, ist er böse? Was hat er denn gemacht? – Er hat sich vor seinem Schicksal gedrückt. Wenn er geschossen hätte, weil er sich sagt: ‘Ich bin verstrickt in meine Gruppe, und die sind verstrickt in ihre Gruppe, und das Schicksal hat es so gefügt, dass ich sie erschießen muss statt sie mich, und ich stimme dem zu, was immer auch die Folgen sind’, das ist Größe.”[16]

Noch deutlicher wird der sanfte Hellinger auf seiner Homepage, dem Virtuellen Bert-Hellinger-Institut. Dort betreibt er im Nazi-Jargon die Reinwaschung der deutschen Soldaten, die die NPD seit Jahren auf der Straße einfordert. Das NPD-Motto “Unsere Väter waren Helden”, das die Nazis bundesweit der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-45 entgegensetzten, findet in Hellinger einen eifrigen Verfechter: “Es ist für mich auch ganz klar, wenn man auf unsere Soldaten vom letzten Krieg schaut, dass die Soldaten schon Helden waren. Was sie in diesem Krieg an Heldenmut geleistet in oft verzweifelten Situationen und mit letztem Einsatz, das war schon überragend. Dass das jetzt alles verteufelt wird, schwächt unsere Generation. Wenn man das anerkennt, trotz des Schlimmen, das sie auch angerichtet haben, (...) fließt von ihnen zu uns eine besondere Kraft.” Er gerät ins Schwärmen: “Ja, die Täterkraft ist eine besondere, das darf man nicht übersehen”, und erklärt, dass ein Held derjenige ist, der sich nicht widersetzt, Partisanen zu erschießen und die halbe Welt in Flammen zu legen: “Da gibt es Helden, die sich ausgezeichnet haben durch besondere Tapferkeit und auch Wagemut und dann die großen Orden bekommen. Aber, das sind nicht die, die ich meine, (...) das sind Leute, die dem Feind nicht ins Auge geschaut haben.” Den wahren Helden sieht Hellinger in dem einfachen Wehrmachtssoldat, der für den Sieg des Faschismus unermüdlich bis zum Tod kämpfte, “zum Beispiel in Stalingrad. Es war ja unglaublich, was die alles erlitten haben. Das waren keine Helden in üblichen Sinn, aber sie haben ihr Letztes gegeben und haben auch das Letzte geben müssen. Das ist anders. Die habe ich im Blick.”[17]

Die deutsche Vergangenheit zeichnet bis heute das jüdisch-deutsche Verhältnis und wirkt auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Wo kritische Psychologen die Unfähigkeit der Deutschen benennen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, verfällt Hellinger in einseitige Schuldzuweisungen an den jüdischen Partner. Adornos Feststellung bestätigend, dass die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden,[18] lokalisiert Hellinger die Verantwortung für das Scheitern einer Beziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem nicht-jüdischen Deutschen nicht etwa in der geschichtsbedingten Problematik der deutschen Seite, sondern in der jüdischen “Schicksalsbindung”. “Eine jüdische Frau kann keinen Deutschen heiraten”, postuliert Hellinger und begründet dies mit der alten antisemitischen Vorstellung von der impertinenten Penetranz des Jüdischen, die eine Loslösung vom Glauben nicht ermögliche. Und da nach Hellingerscher Doktrin die Frau dem Mann zu folgen habe, auch in puncto Glaubensbekenntnis, sei eine Beziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem nicht-jüdischen Deutschen per se abzulehnen. Als ob damit noch nicht genug völkisch-deutsches Denken propagiert und angewendet wurde, komplettiert Hellinger den antisemitischen Exkurs mit einer Einführung in die Lehre von Blut und Volk. Die völkische Rassetheorie, nach der Charakter, Geisteshaltung und Schicksalsbestimmung blutsmäßig vererbt würden, ist der Hintergrund des von Hellinger zitierten Sitzungsteilnehmers, der sich mit der Bemerkung ins Gespräch einbringt, dass es vielleicht “auch eine Rolle [spielt], wie hoch der Anteil des Jüdischen ist. Vielleicht nur die Hälfte oder ein Viertel?” [19]

In lebensphilosophischer Tradition stellt Hellinger in Bezug auf den Nationalsozialismus klar, dass “schlimme Bewegungen in unserer Entwicklung mindestens genauso wichtig sind wie die guten”. Hellinger rechtfertigt den Zweiten Weltkrieg als vitalistische Notwendigkeit, zustimmend zitiert er Heraklit: “Der Krieg ist der Vater aller Dinge”. “Die Hoffnung auf ewigen Friede lasse ich fallen. Ich sehe die Gegensätze auf einer höheren Ebene. Das so genannte Gute und das so genannte Böse wirken auf einer höheren Ebene zusammen. So gesehen leistet jede Bewegung, auch wenn wir sie verurteilen möchten, einen Beitrag zum Ganzen. Das heißt für mich auch, dass die großen geschichtlichen Bewegungen unausweichlich sind. Die Nazibewegung und den Kommunismus, aber auch die Bewegung, die zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt hat, betrachte ich als unausweichlich. Es gab keinen, der es in der Hand hatte, sie zu stoppen. Das sind Ausbrüche der Macht, die größer sind als das Ich.”[20] “Wir wären in Europa weit zurück, wenn das alles nicht geschehen wäre.”[21] Krieg sei also unvermeidlich – mehr als das, Krieg sei entwicklungsförderlich. Kriegsgegnern bescheinigt er dieselbe “aggressive Energie”, denselben “Zerstörungswillen” wie den Kriegstreibern. So beschuldigt er die “Männer im Widerstand”[22] “im konkreten Vollzug nicht friedlicher gestimmt” gewesen zu sein als die Faschisten und folglich dieselbe “Gesinnung” besessen zu haben.[23]

Der Mensch solle sich dem politischen Geschehen gegenüber passiv verhalten: “Je mehr Menschen es gibt, die sich für die ganze Welt verantwortlich fühlen, desto schlimmer wird es. (...) Wenn ich keinen Anspruch habe, dass sich die Welt verbessert, sondern Frieden stifte, wo ich Einfluss habe, genügt mir das.”[24] Diesen vehement vertretenen Rückzug ins Private verbindet Hellinger mit einer ausgeprägt konservativen Rollenzuschreibung.

Die Frau folge dem Manne

Als Schwerpunkt seines Denkens spricht Hellinger regelmäßig die Rolle der Frau sowie den Umgang mit Inzest und Vergewaltigung an. Hellinger meint, wird lebten in einem “weiblichen Zeitalter”. Die “Frauen sind auf gesunde Weise auf dem Vormarsch”.[25] Er lobt erkämpfte Frauenrechte und verlangt als Ausgangbasis für eine glückliche Beziehung eine “Ebenbürtigkeit” der Partner. Diese “Ebenbürtigkeit” sei beispielsweise nicht gegeben bei einer Beziehung zwischen einem reichen Mann und einer armen Frau (“Eine schreckliche Konstellation, ganz schrecklich! (...) Sie wird immer schiefgehen. Immer.”[26]) oder bei einer Beziehung eines behinderten mit einem nicht-behinderten Menschen. Hier bestehe zwischen den Partnern ein Ungleichgewicht hinsichtlich Geben und Nehmen – der Behinderte würde stetig mehr beanspruchen, als er seinerseits abgeben könne – und somit sei das Familiensystem nicht in Ordnung. Die “Ebenbürtigkeit” der Geschlechter will Hellinger dadurch herstellen, dass er Mann und Frau auf feste Funktionen für das Sippensystem festlegt, und dass beide Partner diese Funktionen “anerkennen” (ein weiterer wichtiger Terminus in Hellingers Lehre) und “annehmen”.

Die hierarchische Ordnung Hellingers setzt den Mann an die erste Stelle, ihm folgt die Frau, als nächstes die Kinder.[27] Wird gegen diese Ordnung verstoßen, wenn z.B. umgekehrt “der Mann der Frau folgt, hat das immer schlimme Auswirkungen”.[28] In Hellingers Denksystem, das auf gegenseitigem Güteraustausch basiert (der eine darf nicht mehr geben als der andere zurückgeben kann), folgt die Frau dem Mann (der konkreten Person), dafür dient der Mann dem Weiblich-Göttlichen (Abstraktum).[29] “Das Weibliche ist mehr als die Frau. Wenn der Mann dem Weiblichen dient, ist es mehr, als würde er der eigenen Frau dienen, es reicht über sie hoch hinaus – der Mann sieht die Frau in einem größeren Zusammenhang. Und er würdigt diese Größe.”[30] Der Mann vertrete die Familie nach außen, die Frau stehe im Zentrum der Familie, sie “hütet das Leben und gibt es weiter”.[31] Die Aufgabe der Frau sieht Hellinger in Kindern und Küche. Ganz im Geiste der Zeit seiner Jugendjahre (*1925), in der Mutterkreuzverleihungen die erfolgreiche Frau auswiesen, weiß Hellinger heute über die psychische Disposition der Frau zu urteilen: “Früher hatten die Familien viele Kinder, da war die Frau erfüllt und ausgefüllt mit ihrer Rolle. Eine Frau gewinnt durch die Kinder, eine Frau mit zehn Kindern hat ja eine Wucht, die eine Frau ohne Kinder nicht haben kann – und auch ein Mann nicht. Das ist dann eine Erfüllung. Aber wenn sie nur ein Kind hat, dann ist sie nicht erfüllt. (...) Aber heute ist es ja kaum noch möglich, so viele Kinder zu haben. Deshalb drängen die Frauen (...) ins Berufsleben. Und dann entsteht eine Spannung. Die Frau ist (...) schon geeigneter, die Rolle zu Hause zu übernehmen.” Als Ausgleich für das Hausfrauendasein würde die moderne Frau heute “sehr hohe Ansprüche an den Mann” stellen. Er müsse deshalb die Frau “würdigen” und “spüren”, wann was zu tun sei, denn kognitive Gespräche über Arbeitsteilung lägen nicht im Wesen einer Partnerschaft. “Der Austausch zwischen Partnern ist kein intellektueller”, “die gescheiten Ehen, das sind keine Ehen”.[32] Die Frau müsse wieder erkennen, dass “es ein Verlust ist, wenn sie arbeitet, statt zu Hause zu sein und Kinder zu versorgen. Wenn sie also die eigentliche Bestimmung der Frau würdigt” und auf “ehrenvolle Weise” auf andere Anteilnahme an der Gesellschaft verzichte, könne sie eine große Quelle der “Kraft” erschließen.[33] Hellinger unterstellt der Frau einen kosmischen Auftrag, eine Vorherbestimmung, die durch die moderne Lebensweise (Erwerbsarbeit der Frau außer Haus; Ablehnung der gesellschaftlichen Zuschreibung von rein weiblichen bzw. rein männlichen Charaktereigenschaften) im Bewusstsein verschütt gegangen sei. Die “Bestimmung der Frau” reduziert er klar auf die biologische Besonderheit des Gebärens, auf “Kindererziehung, Heim und Herd”.[34]

Hellinger bedient sich für die Rechtfertigung seiner konservativen Ordnung einfacher Zirkelschlüsse. Die herrschenden Strukturen bestimmen die Rollenerwartungen an den Einzelnen, und erzeugen Anpassungsdruck bzw. psychische Belastung für Menschen, die nicht bereit sind, sich den gesellschaftlichen Erwartungen zu fügen. Da die Mehrheit der Gesellschaft die von Hellinger verbreiteten, konservativen Familienstrukturen als Norm ansieht, fühlt sich der Einzelne in einer guten Rolle, frei von Schuld, wenn und solange er diesen Anforderungen genügt. Der Zirkelschluss Hellingers behauptet nun, da die Mehrheit dieses System, das die eigene Moral hervorbringe, unterstütze, sei es ergo gut. Wer damit Probleme habe, wer ein anderes Leben vorziehe, sei krank (leide etwa an einer “doppelten Verschiebung”). Heilung liege in der Anpassung an die konservative Ordnung.

Hellingers System dient als Verbreitungsbasis für ein konservatives, patriarchales Frauenbild und eine traditionelle Familienpolitik.

Sexueller Missbrauch

Nach Hellinger schafft der Vollzug der Liebe eine Bindung, die nicht mehr auflösbar ist. Unter “Vollzug der Liebe” versteht er Geschlechtsverkehr, “die Grundlage des Lebens überhaupt”. Sexualität “ist etwas ganz Großes”, “ist größer als die Liebe”. “Sexualität ist gefährlich” und stehe immer im “Angesicht des Todes”. “Sexualität und Tod gehören ganz eng zusammen.”[35] Die “Bindung” entstehe unabhängig von persönlicher Zuwendung und Liebe, rein durch den Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Selbstverständlich kommt es nach Hellinger auch durch Vergewaltigung zu solch einer festen Bindung. “Wenn es eine Vergewaltigung gab, dann ist die Sexualität dennoch etwas ganz Großes. Es ist nicht die Sexualität, die dadurch schlimm wird. Die Sexualität ist dadurch nicht betroffen, es sind nur die Umstände, die schlimm sind. Die Sexualität hat dennoch eine ganz tiefe Wirkung. Die Betroffenen können diese Wirkung nicht rückgängig machen. Manchmal wird eine Frau durch eine Vergewaltigung schwanger.” Nach Hellingers Theorie können nahezu alle Vergehen gegen die Sippschaft gesühnt werden, Ausnahme bildeten eine Abtreibung oder die polizeiliche Anzeige eines misshandelnden Vaters. Diese schwere Schuld würde für immer auf der Frau lasten.[36]

Nach einer Vergewaltigung müsse die Frau erkennen, dass mit der Schwangerschaft “aus dem Schlimmen etwas Gutes entstanden ist”. Ziel Hellingerscher Bemühungen ist nun, dass die Frau die Vergewaltigung in einem “größeren Zusammenhang” sieht und ihr nachträglich zustimmt.[37] Hellinger meint, die Frau sei dem Kind schuldig, dass sie seinen Vater “achtet” und ihre Liebe für ihn entdeckt. Auch das Kind dürfe sich nicht gefühlsmäßig gegen seinen biologischen Vater entscheiden; es hätte allein deshalb schon eine Bindung zu ihm, weil er sein Erzeuger ist. Hellinger versucht hier, biologische Sachverhalte als Ordnungsmuster auf das soziale Gefüge zu übertragen. Er nimmt damit die biologistische Sichtweise an, die das menschliche Zusammenleben rein aus angeblichen biologisch-natürlichen Gesetzen ableitet. Das Kind müsse die Haltung aufbauen: “Du bist mein Vater und du bist für mich der einzig Richtige. Es gibt keinen anderen für mich.”

Die Frau soll die Vergewaltigung im Nachhinein gutheißen und sie als vorgegebenes Schicksal empfinden. Sie soll achten, “dass etwas ganz Großes geschehen ist, was auch immer die Umstände waren. (...) Die Frau anerkennt: Es ist etwas Großes vor sich gegangen, das ihr Leben verändert hat, und ein neues Leben ist da. Dem stimmt sie jetzt zu, wie es ist, auch den Umständen, durch die es entstanden ist. Das ist eine Art tiefer Achtung vor dem Schicksal. (...) Das hat etwas von: ‘Liebe ist stark wie der Tod’. Eine Frau erlebt bei einer Vergewaltigung, wie nah das Erleben am Tod ist. Etwas Gewaltsames war am Werk, das sie nicht steuern konnte, dem sie ausgeliefert war. Dennoch hat sich dadurch etwas gefügt. Wenn die Frau, die ja die Leidtragende ist, zur Anerkennung der Bindung und der Folgen fähig wäre, hätte sie eine besondere Kraft und Würde. Stellen sie sich vor, eine Frau ist zu einem solchen Vollzug fähig, dass sie zu einem Kind sagt: ‘In dir achte ich Deinen Vater, was immer auch war. Ich freue mich, dass du da bist, und ich stimme dem Vollzug nachträglich zu, wie er war.’ Was für eine Größe ist da drin.”[38]

Die “Bindung” ist für Hellinger jenseits von Gut und Böse, sie sei wie ein “Naturereignis”, wie “Naturgewalten der Wellen oder des Wassers”. Auch Sexualität sei ein Trieb der Natur, der einfach zum Leben dazugehöre und sich manchmal auch mit Gewalt Bahn breche. Das sei ganz “natürlich”, da die Menschen eigentlich triebgesteuert seien. Vergewaltigung stellt Hellinger als eine normale, natürliche Spielart der Sexualität hin. Sexualität ist für Hellinger grundsätzlich mit Vergewaltigung, Überwältigung und Tod verbunden. Hellinger benutzt niemals den Begriff “Gewalt”; den Begriff “Vergewaltigung” entschärft er, indem er mit Bedeutungswandel spielt. Auf die Frage, ob es richtig sei, Vergewaltigung zu verbieten, antwortet Hellinger ausweichend, wir müssten Sexualität “größer” [39] sehen: “An diesem Beispiel wird deutlich, wieviel größer wir die Sexualität sehen müssen. Wir werden von der Sexualität in einem tiefen Sinn vergewaltigt und überwältigt. Dass das auch diese extremen Formen annehmen kann, liegt in der Natur der Sexualität und nicht in der Natur eines individuellen Täters.”[40] (!) Hellinger stellt Vergewaltigung als etwas durch die Natur des Menschen Bedingtes dar, für das der einzelne Täter nicht verantwortlich gemacht werden könne. Lediglich zum “Schutz der Frauen” müsse der “natürliche Sexualtrieb” “domestiziert” werden.[41] Trotzdem ist Hellinger der Auffassung: “durch den Trieb wirkt ein höherer Geist und ein tieferer Sinn”,[42] und so offenbare sich in einem triebgesteuerten Sexualtäter eben der einer Frau schicksalhaft vorgezeichnete Wille des großen Geistes. Besonders makaber gerät Hellingers abermaliger Versuch, den willentlichen Mord durch eine Vergewaltigung als naturgegebenen Vorgang hinzustellen, der auf der selben Ebene stehe wie der Tod bei einer schweren Geburt. Auf die Anmerkung seiner Gesprächspartnerin hin, dass Vergewaltigung von Frauen als vernichtend erlebt würde, antwortet Hellinger: “Es kann vernichtend sein. Auch die Sexualität, die aus Liebe geschieht, kann vernichtend sein, z.B. wenn die Frau bei der Geburt stirbt. In dieser Hinsicht ist da kein Unterschied.” Mord, Krankheit – alles dasselbe. Diese Interpretation von sexueller Gewalt ist eine mögliche logische Folgerung aus einem Weltbild, das dem Menschen den freien Willen abspricht, ihn als willenloses Teilchen, gesteuert von einer großen, kosmischen Ordnung hinstellt. Wer Hellingers Grundgedanke annimmt, dass der Mensch determiniert sei und durch ihn der Wille der natürlichen Ordnung sich durchsetze, dem erscheint leicht auch die konsequente Darstellung von Unrecht und Gewalt als “Schicksal”, das – fügt man sich ihm – zur persönlichen Reifung gehört, einsichtig.

Hellinger ist patriarchalen Unterdrückungsmustern verhaftet, wenn er den Täter als seinen Trieben ohnmächtig ausgeliefert darstellt und rechtfertigt. In seiner “Therapie”, einer etwa 20-minütigen Familienaufstellung, versucht er, dieses patriarchale Ordnungsbild auf Frauen zu übertragen. Während der Aufstellung repräsentieren aus dem Publikum gewählte Personen als “Stellvertreter” die in das Problem involvierten Menschen, Familienmitglieder bzw. Partner des Hilfesuchenden. Besondere Bedeutung lässt Hellinger dabei Verstorbenen zukommen. Ohne dass eine vorherige Darlegung der Lebensumstände und des Problems erfolgt wäre, positioniert der Ratsuchende “die Stellvertreter” auf der Bühne, wie sie nach seinem Empfinden in der Familie zueinander standen. Der “Therapeut” vollendet die Aufstellung, indem er die Beteiligten nach ihren Empfindungen befragt und die Stellung der Personen verändert. Obwohl die Teilnehmenden Platzhalter für ihnen völlig fremde Menschen sind, treten oft heftige emotionale Reaktionen bis hin zu physischen Schmerzen auf. Plötzliches Schreien, Bauchschmerzen, Atemnot und dergleichen werden dabei missverstanden als “Beweis für den Wahrheitsgehalt der Methode. Dabei sind sie ganz normale Reaktionen auf derartige psychische Gewalt”, so der Psychologe Micha Hilgers.[43] Der Hilfesuchende hat sich nun vor einzelne Stellvertreter zu stellen und von Hellinger vorgesprochene Sätze zu wiederholen, häufig die Phrase “Ich gebe Dir die Ehre”, oder sich vor seinem Gegenüber zu verneigen.

Am Beispiel zweier Aufstellungen soll verdeutlicht werden, dass sein Konzept nicht darin besteht, Opfer aus erniedrigenden Zusammenhängen zu befreien, sondern sie vielmehr in der Unterdrückung zu belassen:[44]

 

Eine Frau, die zuvor von sechs Männern vergewaltigt worden war, suchte Hilfe. Hellinger wies die Stellvertreter der sechs Vergewaltiger an, sich in einer Reihe nebeneinander aufzustellen. Die Frau musste vor jeden einzelnen ihrer symbolisierten Peiniger treten und sich vor ihm verbeugen. Danach stellte Hellinger sie an das Ende der Reihe, in eine Linie mit den sechs dargestellten Vergewaltigern und ließ die Frau sagen: “Hier ist mein Platz.” Damit war die Therapie zu Ende.

 

Eine Frau, die während des Zweiten Weltkrieges von mehreren Männern vergewaltigt wurde, suchte Hilfe in einer Aufstellung. (Hellinger spielt gezielt mit konservativen Vorurteilen und Ängsten, indem er die Vergewaltiger als eine “Horde Russen” bezeichnet.) Als jemand im Verlauf der Aufstellung einwarf, Vergewaltigung sei in diesem Zusammenhang normal, “es sei ja Krieg” gewesen, sei die Frau strahlend aufgestanden, sagte “Stimmt!” und war geheilt. Hellingers Erklärung zu diesem Falle lautete: “So macht man aus Opfern Handelnde.” Hellinger sanktioniert 1. in dieser Erzählung Vergewaltigung während eines Krieges positiv, 2. behauptet er, sobald sich die Frau in die vorgegebene Ordnung einfügen und sie als gut anerkennen würde, würde sie nicht mehr unter den Umständen leiden. Das passive Sich-Einfügen benennt er einfach mit dem Wort “handelnd werden” und stellt damit jegliche Bedeutung sprachlicher Begriffe auf den Kopf.

 

Mit einer seriösen Therapie, die demokratischen Werten verpflichtet ist, hat Hellingers systemischer Ordnungswahn nicht das Geringste zu tun. Seine “Therapie” besteht aus nicht nachprüfbaren Behauptungen, die sich einander überdies beständig widersprechen und somit nicht als in sich geschlossene Theorie gelten können. Eine ausführliche Diskussion der Behauptungen Hellingers erscheint angesichts der sich selbst diskreditierenden Aussagen unnötig. Dennoch muss sie erfolgen, denn trotz der offen vorgetragenen anti-demokratischen, anti-humanistischen Haltung Hellingers hat er sich zum “Guru der Familientherapie” ausgewachsen.

Die heilige Familie

Natürliche Pflicht der Frau sei, mit dem Vater ihres Kindes eine Familie zu gründen. Die Frau verdränge “das Männliche”, wenn sie allein erziehen wolle.

Die feste Zuschreibung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die sich gegenseitig bedürften, ist typisch für das New Age. In abgewandelter Form findet sich diese Polarisierung bei allen exponierten Vertretern wieder. Hellinger unterscheidet sich von anderen Repräsentanten dadurch, dass er die Auflösung in einem androgynen Wesen ablehnt. Für ihn besteht, wie z.B. auch für Bahro, das Ziel darin, die angeblich geschlechtsspezifischen Eigenschaften in grober Form und archaischer Wildheit wiederzubeleben und gegenüberzustellen.[45] Einig sind die esoterischen Konzepte sich in der generellen Bedeutung, die sie der Geschlechterdualität zuweisen. Im Namen der “natürlichen Bestimmung der Frau” greifen sie erkämpfte Rechte der Frauenemanzipation an.

Hellinger weist wie üblich die Schuld pauschal den Frauen zu, wenn er von alleinerziehenden Müttern spricht. Diese hätten den Mann nur ausgenutzt: “Nun gibt es eine Bewegung bei gewissen Frauen, dass sie den Mann nur dazu benutzen, um Kinder zu kriegen (...). Also die freiwilligen alleinerziehenden Mütter (...). Das ist eine Verleugnung von Wirklichkeit und ein Verstoß gegen die Ordnung”.[46] Die Schuldzuweisung führt er fort, indem er aktuelle gesellschaftliche Probleme durch diese faktenverdrehende, a-priorische, irrationale Gedankenkonstruktion erklären will: “Wenn die Mutter sagt: ‘Ich kann das alleine’, wird das Männliche damit verachtet und verdrängt. (...) Rechtsradikales Verhalten ist oft eine Rache an der Anmaßung der Mütter, die meinten, sie könnten den Mann verachten oder verbannen.”[47]

Die von Hellinger angestrebte Gebärfreudigkeit als natürliche Bestimmung der Frau überträgt er in biologistischer Manier auf soziale Empfindungen. Durch die Verhütungsmittel sei ein Verlust entstanden; Sexualität habe ohne die drohenden Folge einer Schwangerschaft an “Tiefe und Kraft” verloren. Sexualität mit Verhütung diene lediglich der Lust, merkt Hellinger negativ an.[48] Dass Hellinger die Beziehung zwischen Mann und Frau gänzlich auf Reproduktion der Familie, Kinderaufzucht, festlegt, wird in seinem Urteil über Sterilisation deutlich. Entgegen aller sonstigen Beteuerungen, dass es bei Geschlechtsverkehr immer, unter allen Umständen zu einer “Bindung” komme, erklärt er plötzlich: Wenn “der Mann oder die Frau sich schon vor der Beziehung sterilisieren ließe, entsteht auch keine Bindung, selbst wenn die Partner es wollen”.[49]

Im Namen der Systemdynamik rechtfertigt Hellinger inzestuösen Missbrauch an Kindern. Er sieht die Schuld generell bei der Mutter, die er als “Graue Eminenz des Inzest” bezeichnet. Diese komme ihren ehelichen Verpflichtungen nicht nach; dem Täter sei etwas vorenthalten worden. Die Mutter schiebe unbewusst das Kind dem Vater als Ersatz zu; das Kind erfülle diese Aufgabe im Dienste des Ausgleichs in der Familie “gerne”. Die Entlastung der Täter durch eine “systemische Dynamik” und die Schuldzuweisung an die Mutter ist das Grundmuster der Argumentation Hellingers.

Vehement wehrt sich Hellinger gegen ein sozialarbeiterisches Verständnis, das in eine Situation verändernd eingreifen will. Außerhalb seiner Sippenbindungen könne sich niemand entfalten, und so würde einem Kind, das aus der Familie genommen wird, meist nur geschadet, weil es seine große Liebe zu seinem ihn misshandelnden Elternteil nicht ausleben dürfe.[50] Hellinger echauffiert sich über Sozialarbeiter, die das Thema des Missbrauchs öffentlich machen. “Die Entrüsteten, die gegen Missbrauch oder alles Mögliche kämpfen, handeln oft aus der Dynamik der doppelten Verschiebung [sind also krank, d. A.], wollen es rechtschaffen nicht, wo es hingehört, sondern in der ganzen Gesellschaft.”[51]

Hellingers Theorie bewirkt eine Zementierung der bestehenden patriarchalen Gewalt- und Machtverhältnisse. Seine Aussagen entsprechen weniger einem esoterischen, als mehr einem schwarz-braunen, erzkonservativen Gesellschaftsverständnis. Trotzdem reiht er sich in die Tradition der deutschen Irrationalisten ein; alle Kennzeichen irrationaler Denksysteme lassen sich an ihm feststellen. Er setzt Verstand und Vernunft herab, huldigt der Intuition als Erkenntnisquelle, die ihm als Berufenem zugänglich sei. Er stellt sich gegen moderne Lebensweisen, propagiert eine traditionelle, rückschrittliche Gesellschaftsordnung der patriarchalen Sippenverbände und schafft mythische Vorstellungen von kosmischen Ordnungsmächten. Angebliche biologische Determiniertheit lege den Menschen auf triebgesteuerte Verhaltensweisen fest. In der archaischen Natur des Menschen lägen männliche Aggression, Vergewaltigung sowie weibliche Unterordnung. Diese angeblichen ursprünglichen Kräfte und Gesetze, die in der modernen zivilisatorischen Lebensweise verdrängt seien, will Hellinger wieder aus der Verdrängung hervorholen. Das Leben nach ihnen auszurichten, sei der Weg zur Heilung.

Getreu der deutschen Spezifik des Irrationalismus spielt die Blutsverwandtschaft eine herausragende Rolle in seinem Denken. Die Lösung der Probleme liegt auch bei ihm in der Auflösung des freien Individuums. Der einzelne Mensch soll sich einem universalen Willen unterordnen, der sein Schicksal determiniere. Dabei bedient sich Hellinger des Bildes eines organisch-systemischen Ganzen, das dem Individuum eine feste Funktion und Stellung zuweist.

Hellingers Ansatz unterscheidet sich von anderen irrationalen Konzepten dadurch, dass er nicht vorgibt, dem herrschenden Gesellschaftssystem gegenüber feindlich eingestellt zu sein. Er unterstützt die politische Ordnung (“Ich stimme der Welt zu, wie sie ist. Ich bin ganz zufrieden damit.”[52]), öffnet sie aber im Bezug auf eine Legitimierung des Nationalsozialismus. Dieser sei auch etwas “ganz Großes” gewesen und dürfe nicht pauschal für schlecht befunden werden.

Die Hellingersche Therapie ist für Hilfesuchende gefährlich, da sie nicht lernen, sich aus schädigenden Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen und eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Sie müssen sich der autoritären Führung eines Therapeuten unterwerfen, der ihnen die Fähigkeit abspricht, ihre Lebensverhältnisse selbst erklären zu können. Damit werden Ohnmacht und Unselbständigkeit der Hilfesuchenden verstärkt.

Die Ausübung der “systemischen Familientherapie” nach Hellinger ist nirgendwo festgelegt; es existiert kein geregelter Erwerb der Qualifikation für dieses selbsterdachte Verfahren. Dubiose esoterische Vereinigungen schlagen daraus Kapital. Die zur Füssener Wankmiller-Sekte (Stamm Füssen II) gehörende Bayerische Gesellschaft für Ganzheitliche Medizin bot beispielsweise eine “Heilerausbildung” an, in der sie innerhalb eines Wochenendes zu “Gesicht- & Handlesen” oder auch zur “Familienaufstellung” nach Hellinger ausbildete.[53]



[1]     Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, Kösel Verlag, München 1996, S. 82.

[2]     Hellingers Buch Ordnungen der Liebe beispielsweise erschien 1994; 2000 lag es bereits in der sechsten Auflage vor. Zweierlei Glück (hrsg. von Gunthard Weber, Carl-Auer-Systeme Verlag), eine Einführung in Hellingers Lehre, erreichte 2001 in der 14. Auflage den Rekord von 100.000 verkauften Exemplaren.

[3]     Sippe: Altertümliche Bezeichnung für eine Menschengruppe, die ihre Zusammengehörigkeit aus blutsmäßiger Abstammung herleitet und sich auf gemeinsame mythische Vorfahren beruft. Sippen stehen zumeist unter Führung eines Ältesten und weisen starken Zusammenhalt im wirtschaftlichen und religiösen Bereich auf.

[4]     Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, Kösel, München 1996, S. 136.

[5]     Bert Hellinger in seinem Vortrag an der Katholischen Stiftungsfachhochschule für Sozialwesen in München am 14.5.1997.

[6]     Ebenda.

[7]     Ebenda.

[8]     Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 162.

[9]     Hellinger gibt hier Ähnliches wie Rudolf Steiner vor, der behauptete, in der Akasha-Chronik lesen zu können. Die Akasha-Chronik ist eine fiktive Bibliothek, in der das Weltgeschehen für Vergangenheit und Zukunft aufgezeichnet sei. Steiner habe die Gabe besessen, auf geistigem Wege dorthin zu reisen und Antworten dort nachschlagen zu können.

[10]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 88.

[11]    Ebenda, S. 87.

[12]    Interview mit Bert Hellinger, Psychologie Heute, Juni 1995, zit. in: Vowinckel, Sigrid: Bert Hellinger unter der Lupe: Was bedeutet sein Ansatz für Frauen, Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V., Stuttgart 1999, S. 3.

[13]    Vgl. Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 159.

[14]    Ebenda, S. 158.

[15]    Ebenda, S. 165.

[16]    Hellinger, Bert: Ordnungen der Liebe, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2000 (sechste Auflage), S. 277f.

[17]    Erfahrungen aus letzter Zeit, Ein Interview von Harald Hohnen mit Bert Hellinger am 26.6.2001 in Berlin, abrufbar auf der Homepage Hellingers unter: http://www.hellinger.com/deutsch/tunnel/tunnelframe_deutsch.html (Stand: Januar 2002)

[18]    Adorno spricht von sekundärem Antisemitismus; dem Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz.

[19]    Hellinger, Bert: Ordnungen der Liebe, S. 233.

[20]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 166.

[21]    Hellinger, Bert zit. in: Weber, Gunthard (Hrsg.): Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2001 (14. Auflage), S. 204.

[22]    Etwa ein Drittel der aktiv im Widerstand Kämpfenden waren weiblich.

[23]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 167.

[24]    Bert Hellinger in seinem Vortrag an der Katholischen Stiftungsfachhochschule für Sozialwesen in München am 14.5.1997.

[25]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 179.

[26]    Interview mit Bert Hellinger, in: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 21.11.1997, S. 64.

[27]    Vgl. Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 175f.

[28]    Interview mit Bert Hellinger, in: SZ Magazin vom 21.11.1997, S. 64.

[29]    Ebenda, S. 62ff.

[30]    Ebenda, S. 66.

[31]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 174.

[32]    Interview mit Bert Hellinger, in: SZ Magazin vom 21.11.1997, S. 64.

[33]    Ebenda, S. 66.

[34]    Ebenda, S. 66.

[35]    Vgl. Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 145f.

[36]    Vgl. ebenda, S. 96.

[37]    Vgl. ebenda, S. 146f.

[38]    Ebenda, S. 148f.

[39]    “Groß” ist eines von Hellingers meistbenutzten Worten in Bezug auf Sexualität. Das Wort sagt qualitativ und quantitativ nichts aus, es suggeriert lediglich eine unbestimmte psychische Bedeutsamkeit.

In gleicher Art und Weise, ohne damit etwas auszusagen, wird im New Age ebenfalls das Attribut “tief” häufig verwendet (vgl. Capra u.a.).

[40]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 152.

[41]    Vgl. ebenda, S. 151.

[42]    Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, S. 156.

[43]    Spiegel, 7/2002, S.202.

[44]    Beide Beispiele sind Hellingers Gastvortrag an der katholischen Stiftungsfachhochschule für Sozialpädagogik in München am 14. Mai 1997 entnommen.

[45]    “Wenn der Mann in sich selbst das Weibliche entwickeln und haben könnte, bräuchte er keine Frau; und wenn die Frau in sich selbst das Männliche entwickeln und haben könnte, bräuchte sie keinen Mann. Daher leben viele Männer und Frauen, die in sich die Eigenschaften des anderen Geschlechts entwickeln, allein. Sie genügen sich selbst.” (Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, S. 157f.)

[46]    Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 176f.

[47]    Ebenda, S. 177.

[48]    Vgl. ebenda, S. 152 und 154.

[49]    Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, S. 155.

[50]    Für missbrauchte Kinder gelte dasselbe wie für missbrauchte Frauen: dass sie durch das Gutheißen des Geschehenen eine “besondere Würde und Kraft” bekämen. Im Gespräch mit Gabriele ten Hövel drückt Hellinger das folgendermaßen aus: “Wenn ein Kind mit der Sexualität so früh in Berührung kommt, kommt es ganz früh mit der Wucht von Leben in Berührung.” – “Diese Wucht des Lebens kann so eine zarte Kinderseele auch töten.” – “Das kann sie, wie Sexualität auch sonst töten kann. Aber wer diese Erfahrung überstanden hat, erreicht eine Tiefe und Kraft, die ein anderes Kind nicht hat.” (Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 153).

[51]    Bert Hellinger in seinem Vortrag an der Katholischen Stiftungsfachhochschule für Sozialwesen in München am 14.5.1997.

[52]    Interview mit Bert Hellinger, Psychologie Heute, Juni 1995, zit. in: Vowinckel, Sigrid: Bert Hellinger unter der Lupe: Was bedeutet sein Ansatz für Frauen, Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V., Stuttgart 1999, S. 3; vgl. ebenso: Hellinger, Bert / ten Hövel, Gabriele: Anerkennen, was ist, S. 163.

[53]    Bayerische Gesellschaft für Ganzheitliche Medizin, Programm 1/1996.


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